Aktuelle Rechtsprechung im Überblick

Februar 2024 (Teil 2)

Zusammengestellt von Benjamin Beyer

Teil 1 Teil 3

Kein Genehmigungsanspruch nach § 1 S. 2 ProstV für aktive entgeltliche Sexualbegleitung für Menschen mit Behinderung in Wohngruppen

VG Augsburg, Urt. v. 26.10.2023 – Au 5 K 22.1430; Au 5 K 22.1431

Redaktionelle Leitsätze:

Dem § 2 Abs. 1 S. 1 ProstSchG liegt grundsätzlich ein weites Verständnis von Prostitution zugrunde, sodas möglichst alle Angebotsformen entgeltlicher sexueller Kontakte dem Bereich der Prostitution erfassen werden. Er erstreckt sich daher auch auf entgeltliche aktive Sexualbegleitung.
Der Träger eines Kompetenzzentrums für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen betreibt, wenn er den Bewohnerinnen und Bewohnern der von ihm betriebenen Wohngruppen Leistungen einer entgeltlichen aktiven Sexualbegleitung vermittelt und/oder deren Erbringung in den Räumlichkeiten der Wohngruppe zulässt, ein Prostitutionsgewerbe.
Eine teleologische Reduktion der Begrifflichkeit „Prostitution“ ist nicht angezeigt.

Abberufung eines Vereinsvorstands aus wichtigem Grund wegen Zerstörung der Vertrauensbeziehung zu den übrigen Vorstandsmitgliedern

OLG Naumburg, Urt. v. 26.10.2023 – 4 U 11/23 (LG Halle, Urt. v. 23.12.2022 – 3 O 351/22)

Redaktionelle Leitsätze:

Die Nichtigkeit von Beschlüssen eines Vereins ist im Wege der Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO geltend zu machen. Im einstweiligen Verfügungsverfahren, das demzufolge ebenfalls eröffnet ist, kann die Nichtigkeit von Beschlüssen nicht festgestellt werde, um der Hauptsache nicht vorwegzugreifen. Hingegen kann entschieden werden, dass bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache ein Beschluss keine Wirkungen entfaltet.
Kann der Verein den rechtzeitigen Zugang der Ladung zur Mitgliederversammlung nicht beweisen, kann der Mangel der Ladung nach der Relevanztheorie durch die Anwesenheit und Mitwirkung der mangelhaft geladenen Mitglieder geheilt werden.
Auch ohne satzungsmäßige Abweichung iSv. § 27 Abs. 2 S. 2 Halbs.1 BGB kann ein Organmitglied grundsätzlich darauf vertrauen, während der laufenden Periode nicht ohne wichtigen Grund abberufen zu werden, wenn er für eine bestimmte Amtszeit gewählt wurde.
Ein wichtiger Grund für die Abberufung ist nach einhelliger Auffassung gegeben, wenn dem Verein eine Fortsetzung des Organverhältnisses mit dem Vorstandsmitglied bis zum Ende seiner Amtszeit nicht zugemutet werden kann. Dies ist auch dann der Fall, wenn das Verhältnis zwischen den Organmitgliedern so gestört ist, dass eine konstruktive Zusammenarbeit ganz offensichtlich nicht mehr möglich ist. Dabei kommt es auf die Gründe für die Zerrüttung nicht entscheidend an.
Das Vorbringen von besseren Möglichkeiten, Gelder zu akquirieren oder Projekte zu fördern kann ein Verfügungsgrund zur einstweiligen Anordnung bzgl. einer strittigen Organstellung nicht glaubhaft machen.

Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG durch BFH durch Nichtvorlage an EuGH

BVerfG, Urt. v. 8.11.2023 – 2 BvR 1079/20 (BFH, Urt. v. 14.8.2019 – I R 34/18; FG Hessen, Gerichtsbescheid v. 29.8.2018 – 2 K 1744/16)

Redaktionelle Leitsätze:

Wird eine Verletzung des 101 Abs. 1 S. 2 GG in Form einer Nichtvorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gerügt, die nach Art. 267 Abs. 3 AEUV und von Amts wegen geprüft hätte werden müssen, kann der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde weder der Verzicht auf mündliche Verhandlung im Revisionsverfahren noch die unterbliebene Erhebung einer Nichtigkeitsklage gemäß § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO iVm. § 134 FGO entgegengehalten werden.
Indem der BFH ohne hinreichend sachliche Begründung eine geklärte (EU-)Rechtslage angenommen hat, hat es den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen bezogen auf seine Prüfpflichten in unvertretbarer Weise überschritten und Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt.

§ 4 Nr. 20 Buchstabe a) UStG für die Veranstaltung von Elferratssitzungen

VG Würzburg, Urt. v. 10.11.2023 – W 8 K 23.411

Redaktionelle Leitsätze:

Obwohl allein nicht ausschlaggebend kann verallgemeinernd festgestellt werden, dass es die Kernaufgabe aller in 4 Nr. 20 Buchst. a) S. 1 UstG aufgeführten Einrichtungen ist, Kultur öffentlich zugänglich zu machen. Erfüllen Einrichtungen anderer Unternehmen dieses Gemeinwohlinteresse ebenfalls, kann dies eine Umsatzsteuerbefreiung entsprechend den Einrichtungen der öffentlichen Hand rechtfertigen, vgl. § 4 Nr. 20 Buchst. a) S. 2 UstG.
Theater ist der Sammelbegriff der für Zuschauer bestimmten Darstellungen eines in Szene gesetzten Geschehens, also jede szenische Darstellung eines äußeren oder inneren Geschehens und die künstlerische Kommunikation zwischen Darstellern und Zuschauern. Theater erfüllt sich in der Menschengestaltung der Schauspieler, bewegt die Gefühle und Gedanken der Zuschauer. Dies zu gewähren, stellt die kulturelle Aufgabe von Theatern iSd. § 4 Nr. 20 Buchst. a) S. 1 UstG dar.
Ein Veranstalter von Elferratssitzungen erfüllt die gleichen kulturellen Aufgaben wie ein in 4 Nr. 20 Buchst. a) S. 1 UStG bezeichnetes Theater.

Internetplattform für Petitionen sind gemeinnützig – Förderung des demokratischen Staatswesens (Grenzen der politischen Betätigung gemeinnütziger Organisationen)

FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 14.11.2023 – 8 K 8198/22 (Revision zugelassen)

Redaktionelle Leitsätze:

Die gemeinnützige allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens ist gegeben, wenn sich eine Körperschaft umfassend mit den demokratischen Grundprinzipien befasst und diese objektiv und neutral würdigt. Ausgeschlossen werden hierbei insbesondere „Einzelinteressen staatsbürgerlicher Art“ und ist von politischer Bildung (§ 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AO) abzugrenzen. Eine allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens ist nach der Rechtsprechung und Literatur aber nur gegeben, wenn sich eine Körperschaft umfassend mit den demokratischen Grundprinzipien befasst und diese objektiv und neutral würdigt. Eine umfassende Auseinandersetzung mit den demokratischen Grundprinzipien, wie sie sich aus dem GG ergeben, ist dabei nicht notwendig. Genügend ist auch eine Schwerpunktbildung in diesen Bereichen.
Die Tätigkeit der Körperschaft darf hingegen weder unmittelbar noch allein auf das politische Geschehen und die staatliche Willensbildung gerichtet sein. Unter Berücksichtigung der Definitionen des Parteiengesetzes gehören somit weder die Einflussnahme auf die „politische Willensbildung“ (§ 2 Abs. 1 PartG) noch die Einflussnahme auf die „Gestaltung der öffentlichen Meinung“ (§ 1 Abs. 2 PartG) zur Förderung der Allgemeinheit iSv. § 52 AO (BFH, Urt. v. 10.1.2019 – VR6017 V R 60/17, BStBl. II 2019, 301). Die Vereinigungen zur Förderung der Volksbildung und des demokratischen Staatswesens müssen nach der Rechtsprechung in ihrer „politischen Bildung“ „geistig offen“ sein und dürfen gerade nicht das Ziel verfolgen, Lösungsvorschläge für Problemfelder der Tagespolitik durchzusetzen, denn eine steuerliche Gemeinnützigkeit stünde sonst im Konflikt mit den strengen Vorgaben des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichts zur Parteienfinanzierung.
Eine Körperschaft, die eine Plattform für Petitionen, die nicht notwendigerweise Petitionen iSd. Art 17 GG sein müssen, betreibt und dabei offen für sämtliche nicht rechtswidrige bzw. verfassungswidrige Anliegen ist, erfüllt das Merkmal der geistigen Offenheit. Soweit sich die Tätigkeit der Körperschaft auf die Bereitstellung der Plattform beschränkt, also die Vorstufe der Meinungsäußerung betrifft, ist es unerheblich, dass im konkreten Einzelfall mit den Petitionen Individualinteressen verfolgt werden.

Grenzen der politischen Betätigung gemeinnütziger Organisationen

FG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 14.11.2023 – 8 K 8012/23 (Revision zugelassen)

Redaktionelle Leitsätze:

60a Abs. 6 S. 1 AO verlangt weder den Nachweis einer Missbrauchsabsicht durch das FA noch ist die Prüfung des FA eingeschränkt. Der Tatbestand der Norm knüpft vielmehr allein an die Nichterfüllung der tatsächlichen Geschäftsführung an.
Das Gemeinnützigkeitsrecht unterscheidet hinsichtlich der Frage der politischen Betätigung zwischen zwei Kategorien: Erstens den Vereinigungen, die einen gemeinnützigkeitsrechtlichen Sachzweck verfolgen (bspw. Wissenschaft und Forschung, Umweltschutz, Gleichberechtigung von Frauen und Männern etc.) und zweitens solchen Vereinigungen, die die „Volksbildung“ fördern oder „allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens“ betreiben. Vereinigungen mit besonderem Sachzweck können sich gemeinnützigkeitsunschädlich politisch betätigen, wenn dies der Verfolgung ihres jeweiligen Förderzwecks dient. Die Vereinigungen zur Förderung der Volksbildung und des demokratischen Staatswesens müssen nach der Rechtsprechung in ihrer „politischen Bildung“ „geistig offen“ sein und dürfen gerade nicht das Ziel verfolgen, Lösungsvorschläge für Problemfelder der Tagespolitik durchzusetzen, denn eine steuerliche Gemeinnützigkeit stünde sonst im Konflikt mit den strengen Vorgaben des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichts zur Parteienfinanzierung.
Bei der Förderung des demokratischen Staatswesens besteht grds. kein Raum innerhalb eines begrenzten Sachzwecks sich auch politisch zu betätigen. Vielmehr muss die Körperschaft den Kern das demokratische Staatswesen selbst fördern und dies ohne konkrete Problemfelder der Tagespolitik durchsetzen zu wollen.
Eine Körperschaft, die eine Internetseite betreibt, auf der einzelne Beiträge (Textform) in der Form eines Blogs chronologisch veröffentlicht werden und sich nicht von sonstigen Themenblogs im Internet oder einfachen Nachrichtenkanälen unterscheidet, fördert das demokratische Staatswesen nur reflexartig und mittelbar. Solch eine reflexartig und mittelbar Förderung wird jedoch nicht von den §§ 51 AO privilegiert.

Förderung eines gemeinnützigen Instituts bei Herausgabe einer Kulturzeitschrift

VG Berlin, Urt. v. 16.11.2023 – VG 26 K 60/22

Redaktionelle Leitsätze:

Wendet sich ein Presseunternehmen gegen die Förderung eines Konkurrenten mit einer Feststellungsklage, so fehlt es an einem Feststellungsinteresse, wenn sich eine Wiederholungsgefahr nach ausgelaufener „Anschubfinanzierung“ nur in einer theoretischen Möglichkeit erschöpft.
Eine Feststellungsklage ist auch dann subsidiär, wenn ein Leistungsklage nach § 8 Abs. 1 UWG möglich ist, da § 43 Abs. 2 VwGO nicht auf Gestaltungs- oder Leistungsklagen nach diesem Gesetz beschränkt ist, sondern meint diese Klagearten rechtswegübergreifend. Ohne Belang sind dabei die Erfolgschancen, da es für die Subsidiarität der Feststellungsklage genügt, wenn das Vorbringen in anderem Rahmen geprüft werden kann bzw. hätte geprüft werden können. Denn bei der Frage nach der Zulässigkeit der Klage geht es nur darum, ob sich das Gericht mit dem Vorbringen der Klägerin zur Begründetheit ihrer Klage zu befassen hat, nicht ob sie begründet ist. Eine Feststellungsklage ist allenfalls nur dann denkbar, wenn sich die Klägerin auf ein Recht stützte, das weiterreicht als das Recht, das sie im Lauterkeitsrecht verfolgen kann/könnte (vorliegend für den Schutzbereich der Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG abgelehnt).

Gewerbesteuerrechtliche Hinzurechnung von Swap-Zinsen als Entgelte für Schulden

BFH, Urt. v. 16.11.2023 – III R 27/21 (FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 8.1.2019 – 6 K 6242/17)

Amtliche Leitsätze:

Aufwendungen für einen Zinsswap sind bei isolierter Betrachtung nicht als Entgelte für Schulden im Sinne des § GEWSTG § 8 Nr. 1 Buchst. a S. 1 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) zu qualifizieren, da sie nicht unmittelbar für die Überlassung von Kapital erbracht werden.
Wird im Zusammenhang mit einem Darlehen ein Zinsswap-Geschäft abgeschlossen, können die Swap-Aufwendungen Entgelte für Schulden sein, wenn der Darlehensvertrag und das Swap-Geschäft eine wirtschaftliche Einheit bilden. Ein bloßer Kausal- oder Veranlassungszusammenhang zwischen den beiden Geschäften genügt nicht. Das Grundgeschäft (Darlehen) und das Absicherungsgeschäft (Zinsswap) können als einheitliche Schuld zusammengefasst werden, wenn beide Geschäfte in sachlicher, zeitlicher und personeller Hinsicht eng miteinander verflochten sind. Hierfür ist Voraussetzung, dass beide Geschäfte hinsichtlich der vertragschließenden Personen, der Zeitpunkte des Vertragsschlusses und der Beträge und Laufzeiten im Wesentlichen kongruent sind und die Fälligkeitstermine der Zins- und Swap-Verbindlichkeiten aufeinander abgestimmt sind.

Keine Klagebefugnis eines nur als regional tätige Umweltvereinigung anerkannten Vereins

VGH Mannheim, Urt. v. 21.11.2023 – 5 S 1693/21

Amtliche Leitsätze:

Zur Betroffenheit einer nach § 3 UmwRG anerkannten regional tätigen Umweltvereinigung in ihrem satzungsgemäßen Aufgabenbereich im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UmwRG (hier verneint).
Die sicherheitsrechtlichen Vorschriften über den Brandschutz in Eisenbahntunneln vermitteln künftigen Bahnnutzern keine subjektiven Rechte, weshalb es einem Kläger, der ausschließlich deren Verletzung geltend macht, an der erforderlichen Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO fehlt.
Auch unter Berücksichtigung der jüngsten bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung genügt der Gesetzgeber durch das Gebot in § 18 Abs. 1 Satz 2 AEG, unter anderem den allgemeinen Belang des Brandschutzes abzuwägen, weiterhin seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Fortführung der Senatsrspr. im Urteil vom 30.9.2020 – 5 S 969/18 – juris).

VGH Mannheim, Urt. v. 21.11.2023 – 5 S 1693/21

Amtliche Leitsätze:

Zur Klagebefugnis eines nur als regional tätige Umweltvereinigung anerkannten Vereins für die Anfechtung eines Änderungsplanfeststellungsbeschlusses.
Der sachliche Umfang einer Anerkennung nach § UMWRBEHG § 3 UmwRG kann nur für den Aufgabenbereich erfolgen, der sich objektiv aus der Vereinssatzung ergibt. Ein Anerkennungsbescheid kann den objektiven satzungsgemäßen Aufgabenbereich nicht mit konstitutiver Wirkung erweitern.

Keine Klagebefugnis eines nur als regional tätige Umweltvereinigung anerkannten Vereins

BGH, Urt. v. 21.11.2023 – II ZR 69/22 (OLG Zweibrücken, Urt. v. 6.4.2022 – 7 U 37/20; LG Frankenthal v. 17.2.2020 – 8 O 19/19)

Amtliche Leitsätze:

Bei nachrangigen Zinsforderungen greift die Ermächtigungswirkung nur ein, wenn diese auf eine besondere Aufforderung des Insolvenzgerichts hin zur Tabelle angemeldet werden (§ 174 Abs. 3 Satz 1 InsO). (Rn. 18)
Der persönlich unbeschränkt haftende Gesellschafter einer Personengesellschaft haftet regelmäßig für die Gerichtskosten des über das Vermögen der Gesellschaft eröffneten Insolvenzverfahrens § 54 Nr. 1 InsO) sowie die Vergütung und die Auslagen des Insolvenzverwalters (§ 54 Nr. 2 Fall 2 InsO). (Rn. 29 – 41)

Contergan II

BVerfG, Beschl. v. 21.11.2023 – 1 BvL 6/21 (BVerwG, Beschl. v. 31.3.2021 – 5 C 2.20; OVG Münster, Urt. V. 2.7.2019 – 16 A 44/16; VG Köln, Urt. v. 3.11.2015 – 7 K 7211/13)

Amtliche Leitsätze:

Sozialrechtliche Ansprüche genießen nur dann grundrechtlichen Eigentumsschutz, wenn es sich um vermögenswerte Rechtspositionen handelt, die dem Rechtsträger nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts privatnützig zugeordnet sind, auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhen und seiner Existenzsicherung dienen.
Wird durch dieselbe Maßnahme des Gesetzgebers eine von Art. GG Artikel 14 Abs. GG Artikel 14 Absatz 1 GG geschützte Rechtsposition einerseits erweitert, andererseits eingeschränkt (gemischte Umgestaltung), bestimmt sich die Reichweite des Eigentumsschutzes nach dem Verhältnis von Zuteilungs- und Entziehungsakt. Maßgeblich ist, ob der Zuteilungsakt eine von Art. GG Artikel 14 Abs. GG Artikel 14 Absatz 1 GG geschützte erweiterte Rechtsposition schafft, in die der Entziehungsakt eingreift, oder ob eine einheitliche Inhalts- und Schrankenbestimmung getroffen wird, nach der die Zuteilung von vornherein im Umfang des Entziehungsakts begrenzt wird.
Eine gesetzliche Regelung darf sicherstellen, dass vergleichbare deutsche und ausländische Leistungen nur einmal gewährt werden. Ausreichend ist, dass beide Leistungen in ihrer Funktion tatsächlich vergleichbar sind.
Ansprüche nach dem Conterganstiftungsgesetz haben einen Mischcharakter, der sich aus dem Ineinandergreifen von haftungsrechtlicher und sozialstaatlicher Fundierung ergibt. Der haftungsrechtliche Hintergrund ist jedenfalls nicht so prägend, dass die mit der Anrechnung verbundene Entlastung des Staates als nicht hinnehmbar erschiene.
Eine verfassungsrechtliche Anforderung an den Gesetzgeber, bei der Identifikation sozialer Doppelleistungen eine wertende Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung des allgemeinen Niveaus aller staatlichen Sozialleistungen und aller sonstigen Vergünstigungen anzustellen, besteht nicht.

Zu den Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem Conterganstiftungsgesetz

OVG Münster, Urt. v. 23.11.2023 – 16 A 1884/22 (Revision zugelassen; VG Köln, Urt. v. 9.8.2022 – VG 7 K 2730/17; OVG Münster – 16 A 1884/22)

Amtliche Leitsätze:

Für das Vorliegen einer Fehlbildung und einer damit einhergehenden Körperfunktionsstörung als Voraussetzung für einen Anspruch auf Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz obliegt dem Antragsteller in vollem Umfang die Darlegungs- und Beweislast.
Hinsichtlich des Nachweises der Einnahme eines thalidomidhaltigen Präparats der Firma G. GmbH durch die Mutter während der Schwangerschaft und für den Ursachenzusammenhang zwischen dem Präparat (also dem Wirkstoff Thalidomid) und den Fehlbildungen gilt aufgrund der Formulierung „in Verbindung gebracht werden können“ in § 12 Abs. 1 ContStifG ein herabgesetzter Beweismaßstab.
Danach ist es erforderlich aber auch ausreichend, dass bei einer Gesamtbetrachtung im Einzelfall die Thalidomideinnahme durch die Mutter während der Schwangerschaft als Ursache für die Fehlbildungen des Antragstellers ernsthaft in Betracht kommt und dies zur Überzeugung des Gerichts feststeht. Dies ist der Fall, wenn ein dahingehender Ursachenzusammenhang plausibel und nachvollziehbar dargelegt wird und dagegensprechende Umstände kein größeres Gewicht besitzen.
Bei einem typischen Schädigungsbild einer Thalidomidembryopathie können geringere Anforderungen an den Nachweis der Einnahme gestellt werden. Je sicherer von einer Einnahme auszugehen ist, umso näher liegt es, dass Fehlbildungen, wie sie (auch) im Rahmen der Thalidomidembryopathie beschrieben werden, mit der Einnahme in einem ursächlichen Zusammenhang stehen (können).
Das Conterganstiftungsgesetz sieht in § 16 ein besonderes Verfahren für die Entscheidung über die Gewährung von Leistungen unter Beteiligung eines mit besonderer Sachkunde besetzten Gremiums vor. Ist dieses Verfahren nicht den gesetzlichen Vorgaben entsprechend eingehalten, kann die Conterganstiftung nach den Grundsätzen des „steckengebliebenen Verwaltungsverfahrens“ zur erneuten Bescheidung des Antrags verpflichtet werden, wenn die Voraussetzungen des Anspruchs auf Festsetzung von Leistungen nach Lage der Akten nicht abzulehnen oder positiv festzustellen sind.
– 16 Abs. 2 ContStifG sieht eine Gremiumsentscheidung durch sämtliche Mitglieder der Medizinischen Kommission vor. Das Verfahren ist nicht ordnungsgemäß durchgeführt, wenn entgegen § 16 Abs. 2 ContStifG nur ein Teil der Mitglieder der Medizinischen Kommission daran beteiligt war und/oder aus der Form der Beteiligung eine Entscheidungsfindung nicht nachvollziehbar erkennbar wird.

Gebietsverträglichkeit einer Anlage für kirchliche Zwecke

OVG Koblenz, Beschl. v. 22.11.2023 – 8 A 10433/23.OVG (VG Neustadt a.d. Weinstraße, Urt. v. 25.4.2023 – 4 K 493/22.NW)

Amtliche Leitsätze:

Die Gebietsverträglichkeit einer Anlage für kirchliche Zwecke (hier: Neubau einer Moschee) in einem besonderen Wohngebiet kann nur beurteilt werden, wenn die Baugenehmigung hinreichend bestimmt ist und die Auswirkungen des Bauvorhabens auf die Nachbarschaft verlässlich beurteilt werden können.
Zur Lärmbelastung durch Parksuchverkehr bei nächtlicher Sperrung von Parkplätzen.

Keine Gemeinwohlgefährdung als Anerkennungsvoraussetzung

VG Berlin, Urt. v. 23.11.2023 – VG 29 K 23/22

Redaktionelle Leitsätze:

Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand ist unabhängig vom Verschulden des Beteiligten zu gewähren, wenn dies wegen einer Verletzung der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts geboten ist. Denn unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren darf ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile für die Verfahrensbeteiligten ableiten und ist zur Rücksichtnahme diesen gegenüber verpflichtet. Genügt eine Klageschrift nicht den Formerfordernissen des § 55a VwGO, weil diese nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, und unterlässt das Gericht einen entsprechenden Hinweis, ist eine Wiedereinsetzung danach zu gewähren. Denn in diesen Fällen beruht das Fristversäumnis auch auf Fehlern, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen und in der eigenen Sphäre des Beteiligten liegendes Verschulden hinter das Verschulden des Gerichts zurücktritt.
Wie nach § 80 Abs. 2 BGB a.F. ist auch nach § 82 BGB n.F. zu prüfen, ob der in der Stiftungssatzung formulierte Stiftungszweck gegen ein Gesetz verstößt und eine Prognose darüber anzustellen, ob die Verwirklichung des Stiftungszwecks durch die dann rechtsfähige Stiftung die Schutzgüter des § 80 Abs. 2 BGB a.F. bzw. § 82 BGB n.F. zu beeinträchtigen droht.
Die Prognose setzt an dem satzungsmäßigen Zweck der Stiftung an. Ist dieser auslegungsfähig, ist der im Stiftungsgeschäft niedergelegte Stifterwille heranzuziehen. Dabei sind auch die außerhalb des Erklärungsaktes liegenden Begleitumstände, etwa die Haltung und die Absichten des Stifters in die Auslegung einzubeziehen, soweit sie einen Schluss auf den Sinngehalt der Erklärung zulassen. Auch Umstände, wie die vom Stifter für die Besetzung der Stiftungsorgane vorgesehenen Personen können im Rahmen der Auslegung des Stifterwillens eine Rolle spielen.
Bei der Prognostizierung einer Gemeinwohlgefährdung durch die Stiftung iSv. § 82 BGB n.F. aufgrund von Äußerungen des potenziellen Stifters ist die Grundrechtsfähigkeit der Stiftung mit einzubeziehen. Danach ist auch entscheidend, ob sich die Stiftung, würde sie sich die Äußerungen zu eigen machen, auf die Meinungsfreiheit berufen kann.
Allein der Umstand, dass ein Begriff (hier: „Zivilisationsbruch“) in einem bestimmten geschichtswissenschaftlichen Kontext entwickelt wurde, heißt nicht, dass jedem Verwender diese Bedeutung klar wäre. Kann die Verwendung des Begriffes zwar als geschmacklos und/oder überzogen, aber nicht ohne Weiteres als Herabwürdigung der Opfer des Nationalsozialismus angesehen werden, kann dies nicht ohne weiteres ein Gemeinwohlgefährdung iSd. § 82 BGB n.F. begründen.

„Identitäre Bewegung Deutschland“ verfolgen Bestrebungen, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet sind

VG Freiburg, Urt. v. 27.11.2023 – 6 K 1103/22

Amtliche Leitsätze:

Die „Identitäre Bewegung Deutschland“ bzw. ihre baden-württembergischen Regionalgruppen verfolgen Bestrebungen, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet sind.
Die innerhalb der letzten fünf Jahre erfolgte Unterstützung dieser Vereinigung führt zur Regelunzuverlässigkeit gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c WaffG (in der Fassung des am 20.02.2020 in Kraft getretenen Art. 1 Nr. 3a des 3. WaffRÄndG vom 19.02.2020, BGBl. I S. BGBL Jahr 2020 I S. 166 – WaffG n.F.). Gemäß den Gesetzgebungsmotiven (vgl. BT-Drs. 19/15875, 36) sollen bereits die Mitgliedschaft in oder die Unterstützung einer verfassungsfeindlichen Vereinigung die Regelvermutung der waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit begründen, weil sie typischerweise einschließen, dass diese Person nachhaltig die verfassungsfeindlichen Ziele der Vereinigung teilt.
Ist der Tatbestand des § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c WaffG n.F. erfüllt, muss einzelfallbezogen geprüft werden, ob atypische Umstände vorliegen, die geeignet sein könnten, die Regelvermutung der Unzuverlässigkeit zu widerlegen (vgl. zu § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG in der bis zum 5. Juli 2017 geltenden Fassung: BVerwG, Urteil vom 19. Juni 2019 – 6 C 9.18 – juris Rn. 33) – hier: im Einzelfall Atypik verneint.

§ 6 Absatz 5 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes mit Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar

BVerfG, Beschl. v. 28.11.2023 – 2 BvL 8/13 (BFH, Beschl. v. 10.4.2013 – I R 80/12; FG Baden-Württemberg, Urt. v. 19.7.2012 – 13 K 1988/09)

Redaktionelle Leitsätze:

6 Abs. 5 S. 3 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts vom 20. Dezember 2001 (Bundesgesetzblatt I S. 3858) ist mit Artikel 3 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit danach eine Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen beteiligungsidentischen Personengesellschaften zum Buchwert ausgeschlossen ist.
Der Gesetzgeber ist verpflichtet, rückwirkend für Übertragungsvorgänge nach dem 31. Dezember 2000 eine Neuregelung zu treffen.
§ 6 Abs. 5 S. 3 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung des Unternehmenssteuerrechts bleibt bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass die Vorschrift mit Wirkung für Übertragungsvorgänge nach dem 31. Dezember 2000 auch gilt, soweit ein Wirtschaftsgut unentgeltlich aus dem Gesamthandsvermögen einer Mitunternehmerschaft in das Gesamthandsvermögen einer beteiligungsidentischen Personengesellschaft übertragen wird.

Anfrage gemäß § 11 Abs. 3 S. 1 und 3 VwGO zu den Voraussetzungen des nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderlichen berechtigten Interesses an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts anlässlich eines Betretungs- und Aufenthaltsverbots zu Lasten eines Fußballfans

Anfrage:

BVerwG (6. Senat), Beschl. v. 29.11.2023 – 6 C 2.22 (OVG Münster, Urt. v. 7.12.2021 – 5 A 2000/20; BVerwG, Urt. v. 27.1.2021 – 8 C 3.20; OVG Münster, Urt. v. 11.12.2019 – 4 A 738/18; VG Düsseldorf, Urt. v. 15.1.2018 – 29 K 8347/15)

Amtlicher Leitsatz:

Bedarf es in den Fällen sich typischerweise kurzfristig erledigender Maßnahmen, die während des Andauerns der Beschwer regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten, für das berechtigte Feststellungsinteresse gemäß § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO eines qualifizierten Grundrechtseingriffs? (Rn. 5 und 8)

Redaktionelle Leitsätze:

Der 6. Senat möchte in dem zu entscheidenden Fall an seiner Rechtsprechung festhalten, dass das nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung jenseits der anerkannten Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitationsinteresses sowie der Absicht zum Führen eines Schadensersatzprozesses grundsätzlich nur dann erfüllt ist, wenn neben der Voraussetzung, dass sich die angegriffene Maßnahme typischerweise so kurzfristig erledigt, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnte, die weitere Voraussetzung erfüllt ist, dass der Verwaltungsakt zu einem qualifizierten Grundrechtseingriff geführt hat.
Europarechtliche Vorgaben verlangen nicht, dass das nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO als Sachurteilsvoraussetzung geforderte Fortsetzungsfeststellungsinteresse in allen Fällen einer typischerweise kurzfristigen Erledigung der angegriffenen Maßnahme unabhängig von dem Vorliegen eines qualifizierten Grundrechtseingriffs bejaht werden muss. Unter anderen findet der unionsrechtliche Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes iSd. Art. 47 GRC in dem Fall eines auf landespolizeirechtlicher Grundlage ergangenen Aufenthalts- und Betretungsverbots mangels eines Bezugspunkts zum Unionsrecht schon keine Anwendung.
Aufenthalts- und Betretungsverboten auf polizeirechtlicher Grundlage, die sich üblicherweise auf einen örtlich eng begrenzten Bereich bei einer auf wenige Stunden oder Tage beschränkten Geltungsdauer beziehen, sind jedenfalls nicht generell als Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG anzusehen.
Da das Ordnungsrecht für die Störereigenschaft kein Verschulden, sondern nur die objektive Verursachung voraussetzt, hat ein polizeiliches Aufenthaltsverbot nicht schon generell eine stigmatisierende Wirkung. Zudem fehlt es vorliegend jedenfalls an der ebenfalls erforderlichen Außenwirkung.

Antwort:

BVerwG (8. Senat), Beschl. v. 29.1.2024 – 8 AV 1.24

Redaktionelle Leitsätze:

Die nach dem Beschluss des 6. Revisionssenats vom 29. November 2023 – 6 C 2.22 beabsichtigte Entscheidung würde nicht zu einer Abweichung von dem Urteil des Senats vom 27. Januar 2021 – 8 C 3.20 im Sinne des § 11 Abs. 2 VwGO führen. Dieses Urteil stützt sich nicht auf die Annahme, ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse gemäß § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO bestünde jenseits der Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitations- und des Präjudizinteresses bereits bei typischerweise kurzfristiger Erledigung der angegriffenen Maßnahme, ohne dass zugleich ein qualifizierter Grundrechtseingriff vorliegen müsste.
Das Urteil vom 27. Januar 2021 – 8 C 3.20 stellt keinen Rechtssatz zu § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO auf. Es formuliert nicht abstrakt die Voraussetzungen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses, sondern beschränkt sich in Rn. 11 auf eine knappe Subsumtionserwägung. Soweit die Subsumtionserwägung wegen der Verwendung des Wortes „schon“ und des Fehlens von Ausführungen zum Gewicht des Eingriffs in Art. 9 Abs. 1 GG missverstanden werden könnte, lösen sich eventuelle Unklarheiten bei Berücksichtigung des Begründungszusammenhangs auf.
Dieser und den weiteren Entscheidungsgründen des Urteils ist auch sinngemäß kein entscheidungstragender abstrakter Rechtssatz des im Anfragebeschluss angenommenen Inhalts zu entnehmen. Erst recht ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht, dass der Senat – ohne dies offenzulegen – von seiner ständigen Rechtsprechung zu den Voraussetzungen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses bei Fehlen einer Wiederholungsgefahr und eines Rehabilitations- oder Präjudizinteresses abgerückt wäre und nun annähme, es sei allein auf eine typischerweise kurzfristige Erledigung des Eingriffs abzustellen.

Verbandsklagebefugnis (bejaht), Bestimmtheit Klageantrag (allgemeine Leistungsklage), Sofortprogramm

OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.11.2023 – OVG 11 A1/23 (Revision zugelassen)

Amtlicher Leitsatz:

Ein nach § 3 UmwRG anerkannter Naturschutzverband ist auch im Falle eines unterlassenen Beschlusses über ein Sofortprogramm im Sinne des § 8 KSG nach § 2 Abs. 1 iVm. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UmwRG klagebefugt.
Die Bundesregierung hat bei einem Beschluss über ein Sofortprogramm nach § 8 Abs. 2 iVm. Abs. 1 KSG solche Maßnahmen zu beschließen, die die Einhaltung der Jahresemissionsmengen des Sektors, in dem eine Überschreitung der zulässigen Jahresemissionsmenge in einem Berichtsjahr stattgefunden hat, für die folgenden Jahre sicherstellen. Bei der Auswahl der in ein Sofortprogramm aufzunehmenden Maßnahmen kommt der Bundesregierung grundsätzlich ein weiter Auswahl- und Einschätzungsspielraum zu.
Die für ein Sofortprogramm im Sinne von § 8 KSG maßgeblichen Jahresemissionsmengen sind – vorbehaltlich einer Änderung nach Maßgabe des § 8 Abs. 2 Satz 2 KSG – in Anlage 2 zu § 4 Abs. 1 Satz 3, Abs. 3 KSG gesetzlich determiniert.
Die Bundesregierung hat über die zu ergreifenden Maßnahmen schnellstmöglichst zu entscheiden, so dass bei einem an den Vorgaben des § 8 KSG orientiertem Verlauf bereits ab dem auf die Feststellung der Überschreitung folgenden Kalenderjahr die Einhaltung des Zielpfades (wieder) sichergestellt werden kann.
Ob die Maßnahmen eines Sofortprogramms die Einhaltung der sektorspezifischen Jahresemssionsmengen sicherstellen, ist eine Prognoseentscheidung der Bundesregierung, die gerichtlich nur eingeschränkt daraufhin überprüfbar ist, ob sie methodisch einwandfrei erarbeitet worden ist, nicht auf unrealistischen Annahmen beruht und ob das Prognoseergebnis einleuchtend begründet worden ist. Bei ihrer Entscheidung muss die Bundesregierung die Prüfergebnisse des Expertenrates für Klimafragen angemessen berücksichtigen.

Teil 1 Teil 3