Aktuelle Rechtsprechung im Überblick

November 2023

Zusammengestellt von Benjamin Beyer

Keine Unterrichtungsobliegenheiten des D&O – versicherten Geschäftsführers gegenüber Versicherer

OLG Hamm, Beschl. v. 13.7.2023 – 20 U 64/22 (LG Paderborn, Urt. v. 17.1.2022 – 3 O 311/21)

Amtliche Leitsätze:

Bei einer D & O-Versicherung mit eingeschlossenem Strafrechtsschutz kann der Versicherer, wenn er zu Gunsten der versicherten Geschäftsführer im Falle bestrittener Wissentlichkeit der Pflichtverletzung „vorläufige Deckung“ bis zur gerichtlichen Feststellung der Wissentlichkeit versprochen hat, seiner vorläufigen Inanspruchnahme nicht mit Erfolg entgegenhalten, der strafrechtlich verfolgte Versicherte habe Unterrichtungsobliegenheiten verletzt, weil er sich nicht vom Versicherer zu den Anklagevorwürfen „vernehmen“ lasse, diesem keine Akteneinsicht in die Strafverfahrensakte ermögliche oder keinen Einblick in die Verteidigerhandakte gestatte und es dem Versicherer deshalb nicht möglich sei, den Versicherten vorzeitig der „wissentlichen Pflichtverletzung“ zu überführen.
Bei einer solchen D & O-Versicherung kann der Versicherer seiner Inanspruchnahme im „vorläufigen“ Strafrechtsschutz auch nicht § 109 VVG („mehrere Geschädigte“) entgegenhalten, wenn durch die Pflichtverletzung einzig der Fiskus geschädigter „Dritter“ ist. Insbesondere sind etwaige Ansprüche der Gesellschaft als Versicherungsnehmerin gegen ihre versicherten Geschäftsführer nach § 43 GmbHG nicht Ansprüche „Dritter“ iSd. § 109 VVG.

Bindungswirkung von Wertfeststellungsbescheiden bei Zusammenrechnung mehrerer Erwerbe

BFH, Urt. v. 26.7.2023 – II R 35/21 (FG Niedersachsen, Urt. v. 25.8.2021 – 3 K 112/19)

Amtlicher Leitsatz:

Ein gesondert festgestellter Grundbesitzwert entfaltet Bindungswirkung für alle Schenkungsteuerbescheide, bei denen er in die steuerliche Bemessungsgrundlage einfließt. Das gilt auch für die Berücksichtigung eines früheren Erwerbs nach § 14 Abs. 1 Satz 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes.

Corona-Überbrückungshilfen (hier sogenannte Novemberhilfe 2020), Maßgeblicher Entscheidungszeitpunkt, Mitwirkungspflicht

VG Stuttgart, Urt. v. 26.7.2023 – 3 K 4298/22

Amtliche Leitsätze:

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung eines Anspruchs auf Gewährung einer Billigkeitsleistung in Form einer Corona-Überbrückungshilfe (hier sogenannte Novemberhilfe 2020) ist die letzte Behördenentscheidung (Anschluss an Bayerischer VGH, Beschl. v. 2.2.2022 – 6 C 21.2701 – juris Rn. 10 und Beschl. v. 27.2.2023 – 22 ZB 22.2554 –, juris Rn. 14; VG Karlsruhe, Urt. v. 16.3.2023 – 1 K 3041/22 –, BeckRS 2023, 4404; VG Würzburg, Urt. v. 25.7.2022 – W 8 22.289 –, juris Rn. 31; VG München, Urt. v. 5.5.2023 – M 31 K 21.6122 –, juris Rn. 29 mwN.).
In Zuwendungsverfahren liegt es in der Sphäre des Zuwendungsempfängers, die Voraussetzungen für die Gewährung einer Zuwendung bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt darzulegen und nachzuweisen. Da die streitige Zuwendung eine freiwillige staatliche Leistung darstellt, ist ihre Gewährung von einer Mitwirkung des Antragstellers im Rahmen des Zuwendungsantrags, insbesondere von der Mitteilung und Substantiierung zutreffender, zur Identifikation und für die Förderfähigkeit notwendiger Angaben abhängig. Im Übrigen trifft jeden Antragsteller im Rahmen eines Zuwendungsverfahrens auch eine aus § 264 Abs. 1 Nr. 1 StGB resultierende und zur allgemeinen Mitwirkungspflicht (§ 26 Abs. 2 LVwVfG) hinzutretende (erhöhte) Sorgfaltspflicht im Hinblick auf die Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Angaben (Anschluss an Bayerischer VGH, Beschl. v. 20.7.2022 – 22 ZB 21.2777 –, juris Rn. 16; VG München, Urt. v. 5.5.2023 – M 31 K 21.6122 –, juris Rn. 28 mwN.).

Steuerbefreiung für ein unter Nießbrauchsvorbehalt übertragenes Kulturgut

FG Niedersachsen, Urt. v. 23.8.2023 – 3 K 462/22

Amtlicher Leitsatz:

Eine Unrentierlichkeit iSv. § 13 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a ErbStG kann nicht durch die Verlagerung der Einnahmen auf eine andere Person, z.B. durch die Einräumung eines Nießbrauchsrechts, herbeigeführt werden.

Redaktioneller Leitsatz:

Für die Beurteilung der Unrentierlichkeit kommt es nicht auf eine personenbezogene, sondern auf eine gegenstandsbezogene Betrachtung an. Der Übernehmer kann sich der Steuerpflicht daher nicht dadurch entziehen, dass er Eigentum und Erträge durch die Einräumung eines Nießbrauchsrechtes zugunsten einer anderen Person trennt und die Erträge somit nicht selbst vereinnahmt.

Zulässigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten im Besteuerungsverfahren gemäß § 29b AO

BFH, Urt. v. 5.9.2023 – IX R 32/21 (FG Schleswig-Holstein, Urt. v. 23.8.2021 – 5 K 42/2)

Amtliche Leitsätze:

29b der Abgabenordnung (AO) legitimiert die Finanzbehörde, unter den dort genannten Voraussetzungen für sämtliche das Steuerverfahrensrecht betreffende Maßnahmen personenbezogene Daten zu verarbeiten.
29b AO genügt den Vorgaben des Art. 6 Abs. 3 der Datenschutz-Grundverordnung und verletzt nicht das unionsrechtliche Normwiederholungsverbot.
29b AO verstößt weder gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes) noch gegen das Recht auf Schutz personenbezogenen Daten gemäß Art. 8 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung bei Mitgliedern der Vereinigung >AG-GGG e.V.<

VG Frankfurt a. M., Beschl. v. 7.9.2023 – 5 L 2671/23.F

Amtliche Leitsätze:

Bei einem Vereinsverbot durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat sind Zweifel an einem Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 Alt. 2 und 3 GG letztlich vor dem dafür sachlich zuständigen Bundesverwaltungsgericht zu klären und treten hinter dem Sachverhaltsaufklärungsinteresse, das eine richterliche Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung rechtfertigt, zurück.
Bei einem Verbot von weltanschaulichen und religiösen Vereinigungen erscheint fraglich, ob die Gerichtetheit gegen Art. 79 Abs. 3 GG genügt und in diesem Sinne tatsächlich vorliegt oder es einer weitergehenden Gefährdung der Rechtsgüter anderer bedarf.
Ein mögliches politisches Profilierungsbestreben hinter einer verbotsbehördlichen Verfügung bleibt unerheblich.

Anspruch auf Eintragung ins Vereinsregister

OLG München, Beschl. v. 4.10.2023 – 31 Wx 153/23 e (AG München, Beschl. v. 3.5.2023 – 13 AR 2710/23)

Redaktionelle Leitsätze:

Ein Vorverein ist im Falle der Ablehnung der Ersteintragung gemäß § 59 FamFG beschwerdeberechtigt. Die erstmalige Anmeldung des Vereins durch den Vorstand erfolgt im Namen des Vereins, letzterem steht daher auch die Beschwerdeberechtigung zu (Sternal/Jokisch FamFG 21. Aufl. § 59 Rn. 91; MüKoFamFG/Fischer 3. Aufl. § 59 Rn. 103; Krafka RegisterR 11. Aufl. Rn. 2453).
Ein Vereinszweck, der auf ein rechtlich missbilligtes Verhalten gerichtet ist (hier gemeinschaftlicher Anbau und Vertrieb von Cannabis), den Zweck aber unter Legalitätsvorbehalt stellt und bis zur Erfüllung der Bedingung ausschließlich Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit vorsieht, verstößt gegen kein gesetzliches Verbot, vgl. § 134 BGB.
Ein Vereinszweck, der sich auf eine Legalisierung von (noch) rechtlich missbilligten Verhalten richtet (Legalisierung von Cannabis) verstößt jedenfalls dann nicht gegen die guten Sitten iSd. § 138 BGB, wenn eine solche Legalisierung im parlamentarischen Willensbildungsprozess diskutiert wird.
Ein Verein, der seinen Hauptzweck derzeit wegen rechtlicher Unmöglichkeit nicht verwirklichen kann, jedoch rechtlich mögliche Ersatzzwecke in der Satzung festgeschrieben hat, kann eintragungsfähig sein.

Prozessuale Folgen von streitbefangenen Vereinsbeschlüssen

VG Hamburg, Beschl. v. 4.10.2023 – 5 K 3996/23

Amtlicher Leitsatz:

Für die Streitigkeit einer (etwaigen) Partei(gliederung) mit einer Sparkasse über das „Wie“ der Ausgestaltung von Rechtsbeziehungen hinsichtlich eines konkreten bereits eröffneten Kontos ist nicht der Verwaltungsrechtsweg, sondern der ordentliche Rechtsweg gegeben.

Klage auf Informationszugang zur Untersuchung des Bundeskriminalamtes zur Kriminalitätsbelastung der Mitglieder von Hells Angels Vereinen erfolglos

VG Wiesbaden, Urt. v. 9.10.2023 – 6 K 642/19

Redaktionelle Leitsätze (nach Pressemitteilung):

Einem Informationsanspruch kann der Informationszugangsversagungsgrund des § 3 Nr. 1 Buchst. c IFG entgegengehalten werden, wenn das Bekanntwerden der Information nachteilige Auswirkungen auf Belange der inneren Sicherheit haben könnte. Dies ist etwa dann möglich, wenn die Information die Arbeitsweise und Informationsbeschaffung der polizeilichen Arbeit offenlegt und so zukünftig diese erheblich erschwert werden kann.
Im Rahmen der Prüfung, ob die Möglichkeit derartiger nachteiliger Auswirkungen besteht, steht dem Bundeskriminalamt ein eigener prognostischer Beurteilungsspielraum zu, der nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar ist.

Verbot von “Internationale Humanitäre Hilfsorganisation e. V.” verstößt nicht gegen EGMR

EGMR, Urt. v. 10.10.2023 – 11214/19 (BVerfG, Beschl. v. 13.7.2018 – 1 BvR 1474/12, 1 BvR 670/13, 1 BvR 57/14; BVerwG, Beschl. v. 19.11.2013 – 6 B 26.13; VGH Kassel, Urt v. 21.2.2013 – 8 C 2134/11.T; BVerwG, Urt. v. 19.12.2012 – 6 A 6/11; BVerwG, Urt. v. 18.4.2012 – 6 A 2/10; BVerwG v. 18.10.2011 – 6 A 6.11; BVerwG, Beschl. v. 27.6.2011 – 6 VR 4/10; BVerwG v. 25.5.2011 – 6 A 6.10; BVerwG v. 9.8.2010 – 6 A 6.10)

Redaktionelle Leitsätze:

Das Verbot eines Vereins und die Beschlagnahme von dessen Vermögen, der terroristische Vereinigungen fördert, stellt keinen Verstoß von Art. 11 EGMR dar, auch wenn die terroristische Bedrohung nicht den Staat, der das Verbot ausspricht, direkt betrifft. Art. 11 Abs. 2 EGMR ist weit formuliert und schränkt den erforderlichen legitimen Zweck nicht auf einen staatsinternen Zweck ein.
Den Genuss des Schutzes durch Art. 11 Abs. 2 EGMR kann nicht beanspruchen, wer den Werten der EGMR zuwiderhandelt, indem er direkt oder indirekt den Terrorismus fördert. Beurteilungsmaßstab hierfür ist neben der Satzung auch die tatsächliche Geschäftsführung der Organisation.

Hinweise zur laufenden Gesetzgebung

Bayern hat einen Gesetzesentwurf zum besseren Schutz von gemeinnützigen Organisationen in den Bundesrat eingereicht (Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafrechtlicher Schutz gemeinnütziger Tätigkeit [Drucksache 470/23]).
Die Bundesregierung hat eine Strategie zur Förderung gemeinwohlorientierter Unternehmen beschlossen. Einen Überblick finden Sie auf dem Winheller-Blog.
Über den Gesetzesentwurf zur Regelung der Finanzierung der parteinahen Stiftungen stimmt der Bundestag am Freitag den 10.11.2023 ab. Den Gesetzesentwurf und die verschiedenen Stellungnahmen können Sie auf der Bundestags-Seite einsehen. Einen Überblick über das Gesetzgebungsverfahren und dessen Hintergründe finden Sie auf dem Winheller-Blog.